Axel Kuhn, der auf unserer Pfalzreise 2019 einen Vortrag zur Rolle der französischen Revolution für die deutsche Demokratie halten sollte, hat uns folgende Nachricht geschickt:
„Lieber Thomas,
ein Unfall im Urlaub macht es mir leider unmöglich, meinen Vortrag auf deiner Jubiläumsreise in die Pfalz und ins Nordelsass zu halten. Als kleiner Ersatz möge der beiliegende Text dienen, den ich aus einer früheren Vorlesung an der Universität Stuttgart zusammengestellt habe. Gerne hätte ich das Thema mehr auf die grenznahen Regionen in Deutschland konzentriert – aber das geht nun nicht. Ich hoffe, dass meine „Botschaft“ trotzdem ankommt: Die Anfänge der deutschen Demokratie liegen in der Revolution. Demokratie musste und muss auch heute immer wieder erkämpft und verteidigt werden. In Zeiten, da die deutschen Freiheitsbewegungen in der Geschichte an den Universitäten kaum mehr thematisiert werden, sind deine politischen Radreisen „in die Revolution“ wichtiger denn je. Ich wünsche der Jubiläumstour einen guten Verlauf ohne Unfälle und den Teilnehmenden einen reichen Gewinn an neuen Einsichten in die Geschichte der deutschen Demokratie.
Axel Kuhn, bis 2008 apl. Prof. für neuere Geschichte an der Universität Stuttgart, seitdem im Ruhestand.“
Hier also der Text:
Einleitung
In Deutschland beginnt die Geschichte der modernen Gesellschaft und die der demokratischen Bewegungen mit der Französischen Revolution von 1789. Denn diese Revolution hinterließ mit ihren Ideen und, seitdem es ab 1792 Krieg gab, auch mit ihren Truppen tiefe Spuren in der politischen und geistigen Entwicklung Deutschlands. Vor allem sind es drei Entwicklungen, die in dieser Zeit beginnen und seitdem die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jhts mitbestimmen. Im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts entstanden in Auseinandersetzung mit der Revolution die ersten politischen Gruppen in Deutschland, die man als Frühformen von Parteien bezeichnen kann. In den Jahren 1792/93 und 1797/98 wurden zweitens die ersten, freilich nur kurzlebigen Republiken auf deutschem Boden errichtet, die vom Prinzip der Volkssouveränität ausgingen. Und drittens wurden in diesen Jahren die ersten Verfassungsentwürfe erarbeitet. Es handelt sich bei ihnen nicht nur um theoretische Modelle. Sie standen vielmehr im Zusammenhang mit revolutionären Bewegungen, denen als Endziel eine deutsche Republik vorschwebte.
Also: die Französische Revolution hat entscheidende Impulse für die deutsche Parteiengeschichte, die deutsche Verfassungsgeschichte, ja für die Entstehung von Volksbewegungen überhaupt gegeben.
Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts
Seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges (1648) war Deutschland endgültig in eine Vielzahl von kleinen und kleinsten Territorien zersplittert. Neben über 300 souveränen Staaten gab es mit Preußen und Österreich zwei Großmächte, die miteinander um die politische Führung wetteiferten. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation – so der offizielle Titel – war nur noch eine formale Klammer, die die auseinanderstrebenden Teile mühsam zusammenhielt. Die wichtigsten politischen Entscheidungen lagen in der Kompetenz der einzelnen Territorialstaaten; diese waren in Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit, Landesverteidigung und Polizeiwesen von der Reichsgewalt unabhängig.
Die Reichsgewalt lag noch bis zum formellen Ende des Deutschen Reiches im Jahre 1806 beim Kaiser. Er wurde offiziell von den Kurfürsten gewählt. Faktisch war die Kaiserwürde in der Habsburger Monarchie erblich. Ferner gab es noch den Reichstag, der seit 1663 als Gesandtenkongreß permanent in Regensburg tagte. Er war eine Vertretung der Kurfürsten, Reichsfürsten und Reichsstädte. Die Kompe-tenzen des Reichstags waren verfassungsrechtlich nicht genau abgegrenzt. Immerhin konnte er einen Krieg zur Angelegenheit des ganzen Reiches erklären und auch nach einem solchen Reichskrieg Friedensverhandlungen führen.
Die deutschen Reichsfürsten ahmten in ihren Territorialstaaten entweder die Regierungsform des Absolutismus nach, so wie sie ihnen in Frankreich vorgeführt wurde, oder sie waren Vertreter eines „aufgeklärten“ Absolutismus. Absolutismus bedeutete, daß der Herrscher als Stellvertreter Gottes über den Gesetzen stand und von keiner Vertretungskörperschaft in seinen Entscheidungen beeinträchtigt wurde. Unter aufgeklärtem Absolutismus verstand man, daß sich die Fürsten, beeinflußt von der Aufklärung, freiwillig an höhere Interessen als die eigenen persönlichen banden. In solcherart regierten Staaten gab es keine Staatsbürger, sondern nur Untertanen. Politisches Bewußtsein, das an die Möglichkeit einer Mitverantwortung gebunden war, konnte kaum entstehen.
Die Entstehung der politischen Gruppen
In der älteren Literatur zum Thema wurde hauptsächlich eine Frage diskutiert: Wann entstand in Deutschland politisches Bewußtsein und welche Rolle spielte die Französische Revolution dabei? Das ist an sich eine wichtige Frage; aber sie wurde bis in die 1950er Jahre hinein nur für eine kleine Gruppe von Schriftstellern, Journalisten und Philosophen untersucht. Heute, da uns eine viel breitere Personenbasis zur Ver-fügung steht, kann man die Frage wohl wie folgt beantworten:
Politisches Bewußtsein war in Deutschland schon vor 1789 ausgebildet. Deutsche Schriftsteller, Journalisten und Professoren waren wie ihre französischen Kollegen von der Aufklärungsphilosophie geprägt. Seit etwa 1775 gab es in Deutschland eine oppositionelle Literatur, die sich gegen die “Tyrannen” richtete und deutlich republikanische Züge trug.
Dennoch hat die Französische Revolution in zweierlei Hinsicht einen großen Einfluß ausgeübt: Sie hat den Prozeß der Politisierung in Deutschland verschärft, indem sie nun jeden politisch denkenden Menschen zwang, zum Wesen der Revolution überhaupt und zum Verlauf der Revolution im Nachbarland Stellung zu nehmen. Damals wurden erstmals Positionen erarbeitet, die in späteren Revolutionen, namentlich 1848/49 und 1918/19, wieder auftauchten.
Die Französische Revolution hat zweitens die einzelnen Menschen zu politischen Gruppen zusammengeführt. In Auseinandersetzung mit ihr bildeten sich drei politische Gruppen heraus:
Gegner der Revolution von 1789 fanden sich in Kreisen und um Zeitungen zusammen, die man konservativ nennen kann.
Gegner der Radikalisierung der Revolution seit 1792/93 entwickelten liberale Positionen. Sie brauchten sich am wenigsten zu organisieren, weil sie die herrschende Meinung vertraten.
Die dritte Gruppe der Demokraten traf sich seit 1791 in politischen Klubs und gab trotz der Radikalisierung der Revolution ihre Orientierung an Frankreich nicht auf. Diese Klubs entwickelten im Unterschied zu den konservativen und liberalen Gruppen feste Organisationsformen: Es gab Satzungen, Vorstandswahlen, Mitgliederlisten und politische Versammlungen. In den meisten Teilen Deutschlands mußten sich die Demokraten im Geheimen versammeln.
Im Rheinland, innerhalb des französischen Einflußgebietes, konnten sie zeitweise öffentlich wirken. Der bedeutendste Klub war die Mainzer “Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit” Sie existierte rund fünf Monate und hatte insgesamt fast 500 eingeschriebene Mitglieder.
Jede dieser drei Gruppen hat nun einen wichtigen Beitrag zur politischen Theorie der Revolution geliefert. Als wichtigster und folgenreichster Beitrag der Konservativen, also der Revolutionsgegner von 1789, kann die Konspirationsthese gelten. Sie lautet etwa so: Die Revolution war überflüssig, da die alte Gesellschaft aus sich heraus noch die Kraft zu Reformen hatte. Wenn die Revolution nicht notwendig war, dann mußte sie künstlich herbeigeführt worden sein, und zwar von einer kleinen Gruppe von Verschwörern. Auf spätere Revolutionen übertragen, änderten sich wohl die Konspirateure, aber das einmal gefundene Grundmuster blieb erhalten: die Reformierbarkeit der alten Gesellschaft und die unnötige Revolution als Werk einer kleinen Minderheit.
Den bedeutendsten Beitrag zum Arsenal liberaler Revolutionsabwehr in Deutschland lieferte Friedrich Schiller. Das von ihm entwickelte Konzept lautet vereinfacht: Der Mensch muß sich zunächst selbst verändern, bevor er die Verhältnisse verändern kann. Dieses Konzept ermöglichte es, an den Ideen von 1789 festzuhalten, deren Verwirklichung aber als Werk politisch unreifer Menschen abzulehnen.
Die deutschen Demokraten hatten auch vielfach Mühe, die Schreckensherrschaft der französischen Jakobiner zu akzeptieren. Dennoch entwickelten die entschiedensten Revolutionsanhänger von ihnen Überlegungen zur Rechtfertigung der Revolution, die sich auch auf andere Revolutionen übertragen ließen. Georg Forster etwa, der 1794 als Mainzer Emigrant in Paris starb, war der Meinung, daß die Radikalisierung der Revolution nötig sei, um wenigstens die liberalen Ideen durchsetzen zu können. Außerdem übernahm er einen Gedanken von Immanuel Kant, den schon dieser gegen Schillers Konzept der Versittlichung des Menschen eingewandt hatte: Der Mensch reift nur durch eigene Versuche, und diese zu machen muß er die Freiheit haben.
Zusammenfassend zu diesem Kapitel läßt sich also sagen: Das politische Parteiensystem, das das 19. und 20. Jht in Deutschland bestimmte, nämlich die Dreiteilung in konservativ, liberal und demokratisch (später sozialdemokratisch), hat sich schon am Ende des 18. Jhts herausgebildet, und zwar in Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution. Wichtig wurde dabei, daß sich die Revolutionsgegner der ersten Stunde (1789) und die der zweiten Stunde (1792) nicht zu einer Gruppe vereinigten. So entstand eben diese so lange nachwirkende Dreiteilung der politischen Meinungen, ohne daß äußere Anlässe, wie etwa ein bestimmtes Wahlrecht dazu gezwungen hätten. Natürlich hat sich konservatives, liberales und demokratisches Denken nicht in der Auseinandersetzung mit der Revolution erschöpft. Im einzelnen müßte hier noch auf die Staats- und Gesellschaftsvorstellungen der drei im Entstehen begriffenen Parteien eingegangen werden.
Die Mainzer Republik
Rund fünf Monate lang, von Ende Oktober 1792 bis Anfang April 1793, existierte die Mainzer Republik. Zum erstenmal in der deutschen Geschichte trat in dieser Zeit ein Landesparlament zusammen, der Rheinisch-deutsche Nationalkonvent. Er bestand aus Abgeordneten, die aufgrund eines allgemeinen, gleichen und direkten Männerwahlrechts gewählt worden waren. Die Wahl fand am 26. Februar 1793 statt, die konstituierende Sitzung am 17. März 1793. Insgesamt konnten 16 Sitzuungen abgehalten werden.
Auf seiner zweiten Sitzung am 18. März beschloß der Konvent eine Unabhängigkeitserklärung. Er dekretierte, daß die von ihm vertretenen Landstriche zwischen Landau und Bingen “von jetzt an einen freien, unabhängigen, unzertrennlichen Staat ausmachen”. Die Abgeordneten erklärten gleichzeitig “allen Zusammenhang mit dem deutschen Kaiser und Reich” für aufgehoben. Sie bestimmten außerdem, daß das freie Volk der einzige rechtmäßige Souverän dieses Staates sei. Drei Tage nach der Unabhängigkeitserklärung, am 21. März 1793, beschloß der Konvent, die Einverleibung des neuen Staates in die französische Republik zu beantragen.
Die entscheidende Voraussetzung für Entstehung und Dauer der Mainzer Republik war der Kriegsverlauf zwischen Frankreich und den gegenrevolutionären Mächten. Am 20. September 1792 wurde die Invasion Frankreichs in der Kanonade von Valmy gestoppt. Nun drangen französische Truppen auf deutsches Gebiet vor. Im Laufe des Oktobers wurden Speyer, Worms und Mainz besetzt. Das Gebiet zwischen Landau, Saarbrücken, Mainz und Bingen blieb bis zum Frühling 1793 in französischer Hand. Allein diese französische Besetzung des linksrheinischen Deutschlands ermöglichte es den Mainzer Demokraten, ihre Aktivitäten offen auszuüben. Sie brauchten den politischen, ideologischen und finanziellen Rückhalt der Besatzungsmacht.
Doch die treibende Kraft der demokratischen Bewegung am Rhein waren nicht die Franzosen, sondern die Einheimischen. Und die Bewegung erreichte eine beachtliche Stärke. Vor allem in den neugegründeten Klubs wurde viel für die Demokratisierung gearbeitet. Solche Klubs bestanden in Mainz, Speyer, Worms, Landau, Aachen und Bergzabern.
Insgesamtgesehen entwickelte sich in wenigen Monaten eine Kreativität, die große Bewunderung verdient. Politische Reden wurden gehalten, gedruckt und verbreitet. Neue Zeitungen entstanden, sowie Flugschriften, auch revolutionsfreundliche Gedichte und Theaterstücke. In Bergzabern meldeten sich freiheitsliebende Frauen zu Wort. In mehr als 100 Dörfern Rheinhessens und der Pfalz gab es Minderheiten, die eine Beseitigung des alten Regimes wünschten. Festlicher Höhepunkt der Unabhängigkeitsbewegung war jedesmal die Errichtung eines Freiheitsbaumes. Solche Bäume standen schließlich in etwa 50 Dörfern. Nimmt man all diese Initiativen zusammen, so wird man sagen dürfen, daß die französische Besetzung nur das Ventil für ein lange aufgestautes deutsches Freiheitsverlangen öffnete.
Die Cisrhenanische Republik
Im Jahre 1797 bestand zum zweitenmal im Rheinland eine Republik. Die Kampagne für eine solche cisrhenanische Republik war schon seit Mitte 1794 in Gang gekommen, als die Franzosen nach einem militärischen Sieg gegen die Österreicher ein zweitesmal die Landstriche links des Rheins besetzten. Die Zentren der Bewegung lagen diesmal zwischen Aachen, Köln, Bonn und Koblenz; die cisrhenanische Republik bestand in den Monaten September und Oktober 1797.
Volksunruhen in Deutschland.
Auch durch die Erforschung sozialer Unruhen ist unser Deutschlandbild in den letzten Jahren erheblich verändert worden. Bis dahin herrschte noch folgende Auffassung vor: Die sozialen Gegensätze, Spannungen und Auseinandersetzungen seien im Deutschland des ausgehenden 18. Jhts erheblich weniger stark gewesen als in Frankreich. Vieles deutet daraufhin, daß dieser Eindruck vor allem auf dem zu geringen Interesse der älteren Forschung am Problem der sozialen Unruhen beruhte. Nach den Ergebnissen neuerer lokal- und regionalgeschichtlicher Untersuchungen waren soziale Unruhen in Deutschland alles andere als Ausnahmeerscheinungen. Offensichtlich verhielt sich die ländliche und städtische Bevölkerung viel aufsässiger, als bisher angenommen.
Unter dem Eindruck der Französischen Revolution brachen in vielen Teilen des deutschen Reiches Handwerkerunruhen in den Städten, Bauernunruhen auf dem Land und Studentenunruhen an den Universitäten aus. Diese spontan und unabhängig voneinander ablaufenden Mißfallenskundgebungen konnten die Regierungen nicht ernsthaft gefährden. In den Bittschriften der Aufständischen wurden Forderungen erhoben, die sich auf die Abschaffung regionaler Mißstände konzentrierten. Damit gehören diese Bewegungen zu Volksunruhen, wie sie im ganzen 17. und 18. Jht typisch waren.
Am meisten Aufmerksamkeit über regionale Grenzen hinweg erregte der sächsische Bauernaufstand von 1790. Ursachen des Aufstands waren die traditionellen bäuerlichen Abhängigkeitsverhältnisse. Das auslösende Moment bildete eine Wildplage. Als sich 1789/90 der Wildbestand im Kurfürstentum Sachsen stark vermehrte, die Bauern sich aber wegen des Jagdprivilegs der Großgrundbesitzer gegen die Wildschäden nicht wehren durften, griffen sie zur Selbsthilfe. Erst trieben sie das Wild weg, dann schossen sie es widerrechtlich ab. Im August 1790 kam es zu gemeinschaftlichen Aktionen. Ganze Dörfer stellten ihre Frondienste ein, Bauerntrupps zerstörten Schlösser und Gutshöfe, besetzten das Land und befreiten ihre Anführer aus den Gefängnissen. Flugblätter griffen wie im Bauernkrieg von 1525 auf religiöse Begründungen zurück, und argumentierten (das war neu) mit den Menschenrechten. Die Regierung mußte 5 600 Mann Militär in das Gebiet entsenden, um den Aufstand zu unterdrücken. Die Bauern ergaben sich angesichts der Übermacht kampflos. Zuchthaus, Arbeitshaus und Geldstrafen für mehr als 100 sogenannte Rädelsführer waren die Folge.
Mit dem Ausbruch der Revolution erhielten die Äußerungen des Volkszorns, die sich wie ein mehr oder weniger breiter Strom durch die Jahrhunderte ziehen, eine größere Bedeutung. Sie wurden nämlich anders eingeschätzt als in ruhigen Zeiten und konnten dadurch auch das Handeln der Menschen stärker beeinflussen. Symbolische Akte, wie das Tragen von Kokarden, oder die neue Begrifflichkeit von Aufklärung und Revolution, brachten es in diesem Kontext zu ungeahnten Wirkungen. Die Regierenden antworteten schärfer als bisher auf die Äußerungen von Unzufriedenheit, und die Unzufriedenen konnten sich durch das französische Beispiel ermutigt fühlen. Es ist also nichts gewonnen, wenn man nur auf den Ablauf eines Protestes schaut und dann feststellt, es seien ja nur die altbekannten Formen gewesen, und wenn man die symbolischen Handlungen als bloße Drohgebärden bezeichnet. Denn ein und dieselbe Tat kann durch veränderte Zeitumstände eine neue Qualität erhalten, ganz einfach dadurch, daß sie neu wahrgenommen wird.
Mit ihren traditionellen Unruhen verstärkten die Bauern, Handwerker und Studenten das Konfliktpotential in der Gesellschaft und konnten dadurch, ohne es im einzelnen zu beabsichtigen, zu deren allgemeiner Verunsicherung, im Extremfall zur Entstehung einer revolutionären Situation beitragen.
Revolutionäre Bewegungen und Verfassungsentwürfe
Durch den Frieden von Basel, den Preußen im April 1795 mit dem revolutionären Frankreich schloß, wurde das rechtsrheinische Deutschland in zwei Teile geteilt. Im nördlichen Teil herrschte jetzt Frieden, im südlichen Teil ging der Krieg weiter. Dort konnte man auch erwarten, daß französische Truppen weiterhin ins Land einmarschieren würden.
So konzentrierten sich die revolutionären Bewegungen ab 1795 auf den deutschen Süden. In Süddeutschland, also außerhalb des französischen Besatzungsgebiets, aber innerhalb des Kriegsgeschehens, unternahmen deutsche Revolutionsanhänger mehrere Anläufe, eine Republik zu errichten. Im Rahmen dieser Bewegungen wurden auch zwei Verfassungsentwürfe entwickelt.
Mit dem vermutlich 1798 ausgearbeiteten Ulmer Verfassungsentwurf erreichte die Bürgeropposition in den süddeutschen freien Reichsstädten ihren Höhepunkt. Sein Titel lautet: “Allgemeine Grundsätze einer zu entwerfenden Konstitution für die Reichsstadt Ulm und ihrem Gebiet”. Die Ulmer Bürgeropposition konnte mit ihm alte ständische Wertvorstellungen überwinden und an ihre Stelle das Gedankengut von Aufklärung und Revolution setzen. In der älteren landesgeschichtlichen Literatur war immer wieder behauptet worden, daß es von der altständischen Opposition keinen Weg zu den revolutionsgeleiteten Bewegungen gebe, die schon im 18. Jht auf eine repräsentative Demokratie aus waren. Der Ulmer Verfassungsentwurf zeigt nun das Gegenteil auf.
Er beruht auf einer konsequenten Anwendung der Lehre von der Volkssouveränität und der Gewaltenteilung. Das Männerwahlrecht sollte durch keinen Zensus eingeschränkt und die legislative Körperschaft (der “Äußere oder Größere Rat”) direkt gewählt werden. Wäre dieser Entwurf Wirklichkeit geworden, so hätte er den Ulmer Bürgern nicht nur ein größeres Maß an politischer Freiheit, sondern auch mehr demokratische Rechte als den französischen Zeitgenossen gegeben.
Während der Ulmer Verfassungsentwurf nur für ein kleines reichsstädtisches Gebiet konzipiert worden war, orientierte sich der zweite Entwurf an einer gesamtdeutschen Republik. Sein Titel lautet “Entwurf einer republikanischen Verfassungsurkunde, wie sie in Deutschland taugen möchte”. Die umfangreiche Flugschrift, deren Verfasser unbekannt ist, wurde Anfang März 1799 in Basel gedruckt, war aber schon im Sommer 1798 fertiggestellt worden. Auch dieser Entwurf entstand im Zusammenhang mit konkreten Aufstandsvorbereitungen.
Im Jahre 1798 stand der Rastatter Kongreß im Mittelpunkt der europäischen Politik. Er hatte die Aufgabe, Entschädigungen festzulegen, die deutsche Fürsten dafür erhalten sollten, daß ihre linksrheinischen Gebiete bei Frankreich blieben. Bei den Rastatter Verhandlungen dachte keiner daran, daß auch die Bevölkerung zu diesem Menschen- und Länderschacher vielleicht etwas zu sagen hätte. Das deutsche Volk blieb bloßer Gegenstand des Handels. Im Januar 1798 jedoch tauchten “gedruckte aufrührerische Zettel” auf, die die Überschrift “Freiheit – Gleichheit” Trugen. In ihnen wurde dazu aufgerufen, einen unabhängigen Freistaat zu bilden. Ausgangspunkte der Agitation waren die Stützpunkte Basel und Straßburg, Bundesgenossen die Schweizer und die cisrhenanische Bewegung. Unterstützt von französischen Trup-pen wollte man mit Bauern des badischen Oberlandes nach Rastatt marschieren, die Stadt besetzen und eine republikanische Verfassung anordnen. Diese Aktion sollte zugleich das Signal zu einer Erhebung sein, die vom Bodensee bis nach Schwaben reichte. Das Projekt war mit dem General der französischen Deutschlandarmee abgesprochen worden.
Das ganze Projekt wurde jedoch im Januar 1798 durch erste Verhaftungen aufgedeckt und durch die schnelle Versetzung des Generals vereitelt. Die französische Regierung arbeitete schon in dieser Zeit lieber mit den deutschen Fürsten, als mit den deutschen Revolutionären zusammen.
Offensichtlich in diesem Zusammenhang wurde die republikanische Verfassungsurkunde ausgearbeitet. Sie verkündete als Endziel eine Republik, die alle Deutschen umfassen sollte. Zunächst aber war die Umwälzung nur in einigen Gebieten geplant; andere konnten sich später nach ihrer Befreiung anschließen. Dem aus 547 Artikeln bestehenden Entwurf zufolge wählen die Bürger in Urversammlungen ihre Wahlmänner. Diese Wahlmänner wählen dann nicht nur die Abgeordneten, sondern auch die Richter. Das parlamentarische System besteht aus diesem Erstrat und einem Zweitrat aus älteren Abgeordneten. Beide Parlamente zusammen sollen eine fünfköpfige Regierung, den Staatsrat, wählen. Manche Bestimmungen des Entwurfs sind bis heute in der BRD nicht eingelöst. Das gilt zum Beispiel für das Bürgerrecht: Als deutscher Bürger und damit Wahlberechtigter sollte jeder Mann gelten, der in Deutschland mindestens ein Jahr lang einem erlaubten Gewerbe nachgegangen ist.
In den Kämpfen um die Errichtung einer bürgerlichen Gesellschaftsordnung, die durch die Französische Revolution auch in Deutschland angeregt wurden, bildete das Projekt zur Sprengung des Rastatter Kongresses einen letzten Höhepunkt. Der “Entwurf einer republikanischen Verfassungsurkunde” kann als das bedeutendste Dokument des süddeutschen Jakobinismus angesehen werden. Dieser Entwurf blieb nur in dem Sinne folgenlos, daß er nicht verwirklicht werden konnte. Aber dasselbe gilt auch für die deutsche Reichsverfassung von 1848.
Beide waren keine bloßen Gedankenspielereien, sondern jeweils in revolutionäre Bewegungen eingebettet. Der Entwurf von 1799 zeigte darüberhinaus eine Methode auf, wie sich unter den damaligen Bedingungen eine nationale Republik von unten nach oben hätte konstituieren können: In einem befreiten Gebiet wäre sie errichtet worden, andere Regionen hätten sich nach ihrer Befreiung anschließen können. Der Verfassungsraum reichte so weit, wie die Verfassungsbewegung reichte.
Zusammenfassung
Deutschland zur Zeit der Französischen Revolution: Das ist nicht nur das “Zeitalter der Klassik”, in dem alle Ereignisse vom “Geist der Goethezeit” durchweht werden. Das in der älteren Literatur gezeichnete Bild vom unpolitischen Deutschland, das nur in der Philosophie Revolutionen machen kann, trifft nicht zu. Durch die Französische Revolution angeregt, mehrten sich auch hier die Unruhen in Stadt und Land, machte sich die politische Radikalität eines aufgeklärten Bürgertums bemerkbar. Es gab die Anfänge des Parteienwesens und der Verfassungsbewegung, es kam zu ersten Kämpfen um die Errichtung einer Republik.
Die Gründe dafür, daß diese Bewegungen noch scheiterten, lagen vor allem in der großen Zersplitterung Deutschlands. In Frankreich war der Staat zentralisiert – in Deutschland bestanden ca. 350 souveräne Herrschaften. Ein zweiter Unterschied ist, daß Frankreich ein wirtschaftlich bankrotter Staat war. Er war damit auf das Geld der Bürger angewiesen und mußte dafür deren Mitbestimmungsforderungen hinnehmen. In Deutschland waren die Regierungen nicht in diesen Zugzwang geraten; sie konnten den Aufstands- und Demokratiebewegungen unbeschadet mit ihren Soldaten entgegentreten.
PS: Eine ausführlichere Fassung dieses Textes ist nachzulesen in dem Buch:
Axel Kuhn: Die Französische Revolution, Reclam-Taschenbuch 1999 (gelbe Ausgabe) bzw. 2011 (magentarote Ausgabe)