Wir waren Flüchtlinge

Ein Beitrag aus Pfälzer Sicht zur aktuellen Flüchtlingssituation.

Von Thomas Handrich

Die meisten Pfälzer denken, dass ihre Vorfahren bereits seit vielen Jahrhunderten in diesem schönen Landstrich gelebt hatten.

Dabei war nach dem 30-jährigen Krieg die Pfalz entleert, nur ca. 15 Prozent der Vorkriegsbevölkerung lebten hier noch. Dörfer waren verlassen, eine Stadt wie Frankenthal war von 18.000 Einwohnern auf unter 500 Einwohner geschrumpft. Viele Pfälzer sind damals im Krieg gestorben, verhungert oder mussten das Land durch Flucht verlassen. Es bedurfte einer, seitens der Obrigkeit, koordinierten Zuwanderung aus dem Alpenraum, aus Frankreich, Holland, England und Schottland, sowie der Rückkehr vor dem Krieg Geflüchteter, damit die Dörfer und Städte allmählich wieder zum Leben erwachten. Dabei wirkte sich die multikulturelle Zusammensetzung bereichernd auf das kulturelle und wirtschaftliche Leben aus.

Allerdings blieb die Pfalz, im Grenzgebiet zwischen Frankreich und deutschen Fürstentümern, in der Folgezeit nicht von Kriegen verschont. Im Pfälzischen Erbfolgekrieg (1686–1697), sowie gut ein Jahrhundert später in den Kriegen nach der Französischen Revolution (1791–1796) war die Pfalz mehrfach Kriegsschauplatz. Teile der Bevölkerung waren auch hier auf der Flucht.

Im 18. Jahrhundert begann eine weitere Fluchtbewegung: Viele Pfälzer begannen, sich auf den Weg nach Amerika zu machen. Die Gründe hierfür waren weitgehend wirtschaftlicher Natur: Ausgepresst von kirchlicher Obrigkeit und weltlichen Fürsten durch Zehnte und Sondersteuern erhofften sich viele in der neuen Welt ein besseres Leben.

Im 19. Jahrhundert verstärkte sich zunächst die Fluchtbewegung. Die beginnende Industrialisierung löste eine Landflucht aus, viele Bauern und vordem in Zünfte eingebundene Handwerker waren ohne Arbeit. Das rasch wachsende Paris war für die Letzteren ein wichtiger Zufluchtsort. Die meisten Pfälzer MigrantInnen waren nach heutigem Sprachgebrauch sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge.

Gerade die nach Paris Geflüchteten fanden in den 30iger Jahren des 19. Jahrhunderts Anschluss an die zahlreichen republikanischen Clubs in Paris und wirkten auch in ihre Heimat zurück. Bereits beim Hambacher Fest war eine Handwerkerdelegation aus Paris zugegen. Durch die Niederlage der Bewegung des Vormärz verstärkte sich die politische Fluchtbewegung aus der Pfalz.

Viele Tausende, nun auch politische Flüchtlinge, wurden in Abwesenheit zur Todesstrafe verurteilt, verließen über die Schweiz oder Frankreich nach 1849 das Land. Eine bemerkenswerte Demokratiebewegung, welche seit der Französischen Revolution auch die Pfalz erfasst hatte, nahm auf Jahrzehnte ein jähes Ende. Dass diese Bewegung europäisch und nicht nationalistisch ausgerichtet war, zeigt die breite Solidaritätsbewegung mit polnischen Flüchtlingen. Diese waren nach dem verlorenen Warschauer Aufstand auf der Flucht nach Frankreich und durchquerten damals die Pfalz. Es bildeten sich von Frauen organisierte Solidaritätsvereine, welche erste Hilfsmaßnahmen und Essenstafeln organisierten. Die Bevölkerung begrüßte jubelnd die Flüchtlinge.

Bis heute ist Auswanderung und Zuwanderung selbstverständlicher Teil unserer Geschichte geworden. Deutschland ist ein Einwanderungsland, aber auch ein Auswanderungsland. Bis vor kurzem, konkret bis zum Jahre 2009, wanderten mehr Menschen aus, als zu. Spitzenreiter ist die Schweiz, gefolgt von den USA.

Zugewandert sind nach dem 2. Weltkrieg Hunderttausende Geflüchtete aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, später dann SpätaussiedlerInnen, parallel seit den 60iger Jahren die sogenannten GastarbeiterInnen vorwiegend aus Italien, dem ehemaligen Jugoslawien, Griechenland, der Türkei etc. Dann folgten Anfang der 90iger Jahre viele Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien sowie viele Polen.

Es ist zu begrüßen, wenn heute viele Menschen in der Pfalz, sich ihrer multikulturellen und demokratischen Wurzeln bewusst oder unbewusst, aktuell für die Unterstützung von Flüchtlingen einsetzen. Die Geschichte der Pfalz mahnt, hier die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge nicht kategorisch auszuschließen.

Die Integration von Flüchtlingen, auch dies lehrt die Geschichte, kann nicht ohne entsprechende Integrationsprogramme (Sprache, Ausbildung, Lebenshilfe, Wohnen, Traumatisierungsarbeit) gelingen. Dass es nicht zu einer verstärkten Konkurrenzsituation zwischen wenig ausgebildeten alteingesessenen Bürgern und den neu zugewanderten Bürgern kommt, müssen in die Integrationsprogramme alle einbezogen werden!

Hier jetzt zu sparen, wird zukünftig enorme Folgekosten mit sich bringen. Wir kennen bereits aus Fehlern der Vergangenheit die fatalen Folgen einer gescheiterten Integration: Die Ausbildung von Parallelgesellschaften und im schlimmsten Fall die Zuwendung zu radikalen, scheinbaren Heilversprechern. Oder v.a. bei den alteingesessenen Bürgern: Eine dauerhafte Entkopplung von Arbeit, die Schaffung eines abgehängten Prekariats.

Dieses düstere Szenario lässt sich verhindern, aber nicht mit der „Wir schaffen das“ Rhetorik der gegenwärtigen Bundesregierung, sondern mit einem nationalen (und europäischem Aktionsprogramm). Dafür müsste allerdings viel Geld in die Hand genommen werden. Geld dafür gibt es zuhauf in unserer reichen Gesellschaft, ein bisschen Umverteilung und Umsteuerung vorausgesetzt.

Vogelsdorf, den 16.9.2015