Warum haben viele Romagruppen keinen Zugang zu dem, was als „normales“ Leben gilt?
Diese Frage treibt mich all die Jahre um, seit ich mit ihnen zusammen arbeite – und auch jetzt bei meiner Recherchereise zur Vorbereitung der Radtour Ende Juni stand diese Frage für mich wieder im Zentrum.
Ausgangssituation
Es ändert sich seit mehreren Jahrzehnten nichts daran, dass ca. 60 – 70 Prozent (mit eher steigender Tendenz) der Roma im Osten der Slowakei fast völlig separiert von der Mehrheitsbevölkerung in großer Armut in Slums leben. Eine höhere Schulbildung, Zugänge zur Arbeitswelt, überhaupt in unsere sogenannte moderne Welt, gibt es für sie nicht. Auch das gerade zu Ende gegangene Jahrzehnt der Romadekade hat keine nachhaltigen Ergebnisse gebracht. Die Sozialhilfe liegt zwischen 100.- bis 200.- EUR, hinzu kommen monatlich 60.- EUR/Person für die Teilnahme an staatlichen Arbeitsaktivierungsprogrammen und 23 EUR Kindergeld pro Kind. Kinderreichtum hat traditionell einen hohen Wert, insbesondere arme Romafamilien gebären viele Kinder, die Romapopulation nimmt prozentual im Land zu. Der slowakische Staat hat keine erfolgsversprechende Strategie zur Inklusion, eine populistische bis nationalistische Stimmungsmache, in der Ängste gegen eine Übermacht der Roma geschürt werden, nimmt zu.
Dabei wäre ein Inklusionsprozess, nach meiner Überzeugung, längerfristig möglich.
Ich habe viele Jahre lang Einblick in die Entwicklung mehrerer Dörfer in der Mikroregion Kecervce-Olsawa gewonnen. Dort begleitete und berate ich ein Team von Community-ArbeiterInnen bei ihren systematischen Versuchen, die Lebensbedingungen vor Ort zu verbessern. Auch andere Projekte im Land habe ich besucht. Anhand dieser Erfahrungen glaube ich die Mechanismen erkannt zu haben, die einen Inklusionsprozess[1] verhindern. Dazu gehört sicher der mangelnde Wille der Entscheidungsträger vor Ort, in der Slowakei und auf EU-Ebene. Es wäre falsch, die Ursachen für den ausbleibenden Inklusionsprozess allein in einer „demokratischen Unreife“ der neuen EU-Mitgliedsstaaten oder im verbreiteten Antiromaismus in der Slowakei oder auch in Europa zu suchen. Toleranz gegenüber der Romaminderheit ändert allein an ihrer Situation überhaupt nichts!
Am Abgrund Europas ist mir bewusst geworden, warum unsere Gesellschaften keinen Willen besitzen für einen langfristigen Inklusionsprozess: Wenn alles der Profitmaximierung unterworfen ist, ist eine Inklusion von Randgruppen – nicht nur der Roma – nicht möglich.
Das kapitalistische System fördert nicht das grundlegende Bedürfnis der Menschen nach Wohlstand, Chancengerechtigkeit zur Entfaltung individueller Fähigkeiten, Sicherheit und Frieden. Es diszipliniert durch Drohungen und dem Ausschluss von materiellen Ressourcen für den normalen Lebensunterhalt. Und es schafft sich ideologische Legimation durch Abgrenzung gegenüber unliebsame Minderheiten. Alle mitzunehmen auf die Reise in eine Gesellschaft, in der die Entfaltung jedes Einzelnen die Bedingung für die Freiheit der Gesellschaft ist, das ist nicht das Wesensmerkmal einer kapitalistischen Gesellschaft. Menschen sind in erster Linie als KonsumentInnen von Interesse.
Das ist der zentrale Grund, warum geschätzt 70 Prozent der Roma in Slums leben. Einige hunderttausend Menschen werden sich selbst überlassen, weil ihre Arbeitskraft nicht wie die der Mehrheitsbevölkerung in jahrhundertelangen Anpassungsprozessen geschult und diszipliniert worden ist. Mit ihnen leben die Ärmsten aus der Nichtromabevölkerung. Nur in der Zeit des Realsozialismus, nach dem zweiten Weltkrieg bis zum Jahre 1989, arbeiteten die Roma zumeist in Fabriken, ihre materielle Existenz war gesichert, ihr Alltagsleben gewann an Struktur. Mit der Wende waren sie, oft ungelernt, die ersten, welche ihren Arbeitsplatz verloren.
Heute fehlen der Wille und eine ausreichende schulische und berufliche Ausbildungsförderung, um ihre Arbeitskraft an das Anforderungsprofil in modernen, konkurrenzfähigen Betrieben heranzuführen. Zugleich hat der Transformationsprozeß die Gesellschaft in der Slowakei mental verändert. An den Schalthebeln der politischen und ökonomischen Macht sitzt häufig der Aufsteigertypus – rücksichtslos, egoistisch, Karriere orientiert, ohne Empathie. Obwohl es positive Beispiele auf Mikroebene gibt, dass eine gesellschaftliche Teilhabe der ärmsten Romagruppen gelingen kann, gibt es auf der landesweiten Makroebene kein Umsteuern in Richtung einer systemischen, nachhaltigen Inklusion der Roma. Auf diese Weise kann einer verbreiteten Lethargie nicht entgegengewirkt werden. Ähnliche Prozesse von Teilnahmslosigkeit können auch in Familien des abgehängten Prekariats in Mitteleuropa beobachtet werden. Ohne ein Mitnehmen dieser ausgegrenzten und sich mittlerweile selbst ausgrenzenden gesellschaftlichen Gruppen in die Arbeits- und Lebenswelten unserer Gesellschaften fallen wir hinter den Geist der Aufklärung zurück. Demokratie ist nur möglich, wenn alle Menschen gleichberechtigten Zugang zur Bildung und Arbeit haben!
Wie kann eine erfolgreiche Inklusion – nicht nur der Roma – gelingen?
Darüber möchte ich mit den Mitreisenden diskutieren. Hoffnung gibt mir meine gewonnene Erkenntnis, dass es längst Wege für eine erfolgreiche Inklusion der Romagruppen in die Mitte der Gesellschaft gibt. Die nötigen Instrumente sind bekannt.
Dies möchte ich Euch während der Reise zeigen!
Thomas Handrich, Vogelsdorf, den 15.05.2017
[1] Ich verstehe unter Inklusion einen Prozess zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in der Slowakei. Ziel dieses Prozesses ist es, dass sich die slowakischen Romagruppen aktiv in das Gemeinwesen und in die Arbeitswelt einbringen, indem sie ihre bisherigen Nachteile bei der schulischen und anschließenden Ausbildung sukzessive abbauen und gleiche Zugänge zur Arbeitswelt bekommen wie die slowakischen Nichtromagruppen. Umgekehrt ist es notwendig, zum Beispiel durch ein umfassendes Armutsbekämpfungsprogramm, dass auch die Nichtromagruppen in das gesellschaftliche Leben einbezogen werden, die ebenfalls ausgegrenzt sind. Durch die sichtbare Verbesserung der Lebenssituation ließe sich auch der verbreitete Antiromaismus in der Nichtromawelt abbauen. Es normalisiert sich dadurch nicht nur das Leben der Roma (eigenes legales Haus, bessere Bildung, Arbeit) selbst, sondern auch die Beziehungen zwischen Roma und Nichtroma in der Slowakei.