Unterwegs mit Politische Radreisen in Ostpolen und Weißrussland

Ein Bericht von Holger Flaig, Stuttgart

Ein Freund machte mich auf Thomas Handrichs „Politische Radreisen“ aufmerksam – eigentlich mit dem Ziel, mich zum Mitradeln bei der Jubiläumstour Pfalz/Nordelsass zu motivieren. Doch kaum las ich das Zauberwort Bialowieza, war die Flamme der Neugier geweckt. Der Urwald von Bialowieza ist für mich ein Sehnsuchtsziel seit Kindertagen und kombiniert mit Weißrussland (Belarus), einem bisher weißen Fleck auf meiner persönlichen Reiselandkarte – da gab es kein Zögern mehr: Anmelden!
Um es vorweg zu nehmen: Es hat sich rundum gelohnt! Geboten wurde eine schöne und für mich ausgewogene Mischung aus Natur pur, Kultur und Geschichte und nicht zuletzt bereichernden Begegnungen mit wunderbaren Menschen. Endlich, endlich durfte ich in der Kernzone des letzten verbliebenen Tieflandurwaldes Mitteleuropas wandeln, zugänglich nur unter Begleitung eines Rangers. Linden einmal nicht als Parkbaum, sondern als bestandesbildender Waldbaum, zusammen mit mächtigen Eichen, Ahorn, Hainbuche, Ulme, Kiefer und Fichte. Ein abwechslungsreiches Waldbild, und Totholz, viel Totholz, das Lebensraum für unzählige Arten, vor allem von Pilzen und Insekten bietet. Kein Teilnehmer, der den Zauber dieses Waldes nicht genossen hätte. Der weißrussische Teil des grenzüberschreitenden Nationalparks ist übrigens viel größer als der polnische. Auch ihn haben wir durchradelt, staunten vor manch mächtigem Baum und labten uns bei dem zumeist recht heißen Wetter am kühlen Waldesschatten. Nur „the big one“, der Wisent, bevorzugte unsichtbar zu bleiben und war nur im Wildgehege zu beobachten.
Begleitet wurden wir bereits seit Bialowieza von einem siebenköpfigen, weißrussischen jungen Team, das vielfältige Funktionen innehatte: Ko-Organisatoren, Wegweiser, Übersetzer, Vermittler von Natur und Kultur ihres Landes und vieles andere mehr. Für mich als Biologen besonders beeindruckend: Die Leute von Bahna, einer nichtstaatlichen, non-profit Naturschutzorganisation mit Basis in Minsk, Belarus (https://www.bahna.ngo/en/). Sie haben schon einiges an Erfolgen vorzuweisen und waren auch tapfer genug, um gegen staatliche Stellen gerichtlich vorzugehen. Man spürt ihr Engagement und ihre Liebe zur Natur. Wenn Volha (Olga) Kaskevich über Moore redet, fühlt man die Leidenschaft dahinter. She is the „Lady of the Mires“. She really ad-mires mires. Natürlich hatten wir Gelegenheit, sowohl Nieder- als auch Hochmoore zu sehen und bei einer frühmorgendlichen Vogelbeobachtung auch die besondere Stimmung dieses Landschaftstyps zu erspüren. Kanstantsin „Kostja“ Chykalau war der Mann, der uns den Weg wies, die Zeit im Blick hatte und zusammen mit Volha viele Dinge im Hintergrund geräuschlos regelte. Das Bahna-Team wurde durch Yulya ergänzt, die noch nicht lange bei der Organisation ist. Alina Derevyanko, eine Historikerin, lotste uns durch die Grenzkontrollen zwischen Polen/EU und Belarus und führte uns kenntnisreich durch die Festung und die Stadt Brest. Drei weitere junge Leute waren eher aus Neugier und als journalistische Begleitung mit uns gekommen, eine davon hatte die Reise in einem Wettbewerb gewonnen! Alle aber standen uns mit unendlicher Geduld für alle Fragen zu Belarus Rede und Antwort – und wir hatten viele Fragen!
Und dann waren da noch unsere Gastgeber: Olimpia, Hausherrin der ersten Unterkunft „Wejmutka“ in Bialowieza, die sich als ehemalige Direktorin des Nationalparks entpuppte, Sergej, der Biologe und Ornithologe, Hausherr auf Zalessie Wildlife Hut/Bike Hostel und seine Frau Nastja, Musikerin und Mitglied der New Folk-Ethno-Gruppe „Kriwi“, Sergej der Schmied und Tatjana die Weberin, Gastgeber in Belaja, die uns stolz ihre persönliche Sammlungen und ihr Handwerk vorführten. Oder der nette Herr im Café in Brest, der mir einfach so noch einen leckeren Muffin auf den Weg mitgab – Begegnungen, die diese Reise zu einem sehr persönlichen Erlebnis werden ließen.
Ein herzliches Willkommen wurde uns allen zuteil – vielleicht nicht selbstverständlich angesichts der Gräueltaten, die von Nazis, von Deutschen im zweiten Weltkrieg in Polen und Weißrussland verübt wurden. Politische Radreisen würde den Namen nicht verdienen, hätten wir uns nicht auch damit beschäftigt. Gräber erschossener Partisanen oder Bürger, die man dafür hielt und die einfach zur falschen Zeit am falschen Ort waren, finden sich auch im Nationalpark von Bialowieza beiderseits der Grenze, z.T. in Form einer Gedenkstätte. Die Festung von Brest war nicht nur Schauplatz des Separatfriedens von Brest-Litowsk 1918 zwischen Deutschland und Russland, sondern auch Schauplatz heftiger Kämpfe in den ersten Tagen des Überfalls auf die Sowjetunion im Juni 1941 mit mindestens 2000 Toten allein auf sowjetischer Seite. In der Nachkriegszeit wurde die Festung Brest als Gedenkstätte ausgebaut und der Status einer „Heldenfestung“ verliehen. Man muss die martialische Inszenierung des „Sternentors“ und die gigantische Skulptur „Mut“ nicht mögen. Der Wirkung kann man sich dennoch nicht entziehen, auch angesichts der mit Blumen geehrten Toten von Brest, der Würdigung der sowjetischen „Heldenstädte“ und des Ernstes, mit der Schüler den Ehrendienst am ewigen Feuer versehen.
Alina führte uns kundig durch die Festung und anschließend auch in die Innenstadt von Brest. Die Stadt mit über 300.000 Einwohnern bot uns eine durchaus willkommene Abwechslung nach viel Natur und Landleben. Der Besuch war auch insofern wichtig, weil er die Erkundung des Lebens in Belarus abrundete, denn fast 80% der weißrussischen Bevölkerung leben in Städten. Um Brest auf eigene Faust oder in Kleingruppen je nach Gusto zu erkunden, stand genügend freie Zeit zur Verfügung. Übrigens feiert die Stadt 2019 ihr 1000-jähriges Bestehen!
Noch ein paar Worte zu Unterkunft, Verpflegung und dem Radeln an sich:
Die Wejmutka in Bialowieza ist ein relativ neuer Holzbau im Stil eines Landhauses, gemütlich, die Eingangslobby mit ihren Jagdtrophäen vielleicht nicht jedermanns Sache, aber irgendwie gehört das zur eigenwilligen Atmosphäre dazu. Das Essen wird von den Eltern der Hausherrin liebevoll zubereitet und ist äußerst lecker. Im ersten Stock hat man die Möglichkeit, sich in Ruhe als Gruppe zu besprechen. Die beiden Unterkünfte in Belarus sind einfach, aber urgemütlich. Mehrbettzimmer sind die Regel, Toiletten und Duschen muss man sich teilen, aber etwaige Abstriche im Komfort werden durch die Herzlichkeit der Gastgeber mehr als ausgeglichen. Wo lässt es sich schon mitten in der Natur unter einem ausladenden alten Obstbaum an langer Tafel trefflich speisen? Wo zeigt einem der ausgebildete Ornithologe Kleinen Specht und Adler, Wolfsspuren und Elchskelette? Und wo bekommt man eine Einführung ins Schmiedehandwerk oder in die Bedeutung verschiedener Muster der Leintücher im Alltagsleben der ländlichen Bevölkerung. Diese beiden Orte, Zalessie und Belaya, haben eine Atmosphäre, die mit Naturnähe und dem schon fast abgedroschenen Wort Authentizität nur unzureichend umschrieben werden kann. Das Essen ist sensationell gut, herzhaft, verträglich, aus regionalen Zutaten, meist aus dem heimischen Garten und abwechslungsreich. Einziges Problem: Die Mücken. Wenn Thomas Handrich schreibt „Mückenschutz“, dann nehmt das ernst, Leute! Doch wie sagte ein Teilnehmer: Ja, es war nervig, aber ich habe das überlebt und bin stolz darauf!
Das Radeln hat selbst mir 60-jährigem, kaum Trainierten mit Knie-Arthrose wenig ausgemacht, auch nicht die beiden längeren Strecken. Die Region ist allerdings auch weitgehend flach, wirkliche Bergstrecken gibt es nicht. Anfängliche Beschwerden mit dem Hinterteil vergingen schnell, das Tempo war zügig, wurde bei Bedarf aber auch gedrosselt. Eine gewisse Basis-Fitness genügt. Zudem gab es ausreichend viele Pausen zur Regeneration: von kleinen Geschichtslektionen an Gedenkstätten oder in der Nähe des Jagdsitzes, in dem die Auflösung der Sowjetunion beschlossen wurde, über Kaffee- und Vesperpausen z.B. bei „Väterchen Frost“ im weißrussischen Teil des Waldschutzgebiets bis zu ganzen Tagen wie beim Brest-Besuch. Es gab nur eine Reifenpanne, die aber rasch behoben werden konnte. Die polnischen Fahrräder waren neu oder gut in Schuss und trugen uns mit wenigen anfänglichen Schwierigkeiten zuverlässig durchs Land.
Für den Naturwissenschaftler etwas gewöhnungsbedürftig waren die Gesprächsrunden, in denen nach Befindlichkeiten gefragt, das Erlebte durchdiskutiert und alle möglichen Pläne variantenreich erörtert und beschlossen wurden. Doch schließlich soll auch diese Reise irgendwann als Bildungsreise anerkannt werden und da muss ausgiebige Reflektion schon sein. Mehrere sehen mehr als einer und der Austausch der Sichtweisen bereichert selbstverständlich das eigene Erleben. Die Besprechungen dienten auch der Festigung der Gruppe. Nicht zuletzt dank Thomas Handrichs erfahrener und sanfter Lenkung der Reflektionsrunden fand die Gruppe schnell zusammen und funktionierte die Reise über hervorragend. Es war die erste Reise des Veranstalters zu diesem Ziel, sozusagen die Pionieraktion. Dafür funktionierte alles erstaunlich gut und nur wenig musste improvisiert werden – zumindest haben wir als Teilnehmer nicht viel davon gemerkt. Mein Urteil: Absolut und uneingeschränkt empfehlenswert für alle, die neugierig sind und sich offen auf Neues einlassen.