Nachbetrachtungen zur Pfalzreise Herbst 2014

Auf der Suche nach der rebellischen Geschichte der Demokratiebewegung in der Pfalz

Von Steffi Esch und Thomas Handrich

„Ich hab den Eindruck gewonnen, dass der Blick auf Geschichte vielleicht ein ganz anderer sein müsste, als ich es in der Schule gelernt habe”.
Dieser Gedanke, geäußert von Steffi Esch, Teilnehmerin der Herbstreise 2014, war Ausgangspunkt einer längeren Nachbetrachtung von Steffi und mir, einer Patch-Work-Arbeit, deren Ergebnis ich Ihnen nicht vorenthalten möchte.

Es war eine Frage, die unsere ständige, wenn auch unaufdringliche Begleiterin während der Radtour durch die Pfalz war. Wo ist die Geschichte, auf deren Spuren wir uns bewegen wollten? Die Geschichte von Aufbruch und Rebellion, Widerstand und demokratischen Bestrebungen. Die Geschichte von einzelnen Menschen, von Gruppierungen und Gemeinden. Und die Geschichte von Objekten, von Schriftstücken und Bauwerken, von Landschaften und Liedern. Viel davon ist nicht geblieben, so schien es immer wieder. Aber wieso?

Eine mögliche Antwort liegt im Verständnis von Geschichte. Verstehen wir sie als Sammlung einzelner Großereignisse, die immer mal wieder in der Vergangenheit stattgefunden haben und die Welt oder Teile von ihr umwälzten, so handelt es sich um eine Herrschaftsgeschichte, die sich einfach in Geschichtsbüchern anhand bedeutender Namen und genauer Daten, sofern überliefert, abbilden lässt. Diese Geschichte lässt sich gut nachzeichnen, konservieren und letztlich beherrschen. In unserem Falle wäre das vor allem die Französische Revolution gewesen. Von Paris ausgehend, gelangten demokratische Bestrebungen in die Pfalz. Mehr Rechte für die Bevölkerung wurden eingefordert, gewährt und abgewehrt, bis dass es zum Hambacher Fest kam, einem Höhepunkt der pfälzischen, und, so will es die aktuelle Ausstellung im Schloss, der bundesdeutschen Geschichte. Die Ausstellung versucht jedoch nicht nur die historischen Ereignisse rund um das Hambacher Fest von 1832 zu thematisieren. Hambach wird hier als Anfangspunkt einer Entwicklung beschrieben, als eine Art Initialzündung, deren Endpunkt die bundesdeutsche Demokratie heute ist. Als Museumsbesucher bekommen wir unsere Gesellschaft als Ergebnis der Entwicklungen von 1832 und deren Folgen präsentiert.

Dieses Beispiel zeigt zweierlei: zum einen eine mögliche Sicht auf die Ereignisse von 1832 und die damit in Verbindung gebrachte weitere Nationalgeschichte. Zum anderen, auf einer Metaebene, ein bestimmtes Verständnis von Geschichte. Nämlich, Geschichte als ein wichtiges historisches Ereignis zu betrachten, das die nachfolgenden Entwicklungen maßgeblich bestimmt. Und Geschichte als einen linearen Prozess aufeinander folgender Ereignisse zu begreifen. Dass die Vergangenheit aber nicht so leicht zu fassen ist, sie wesentlich komplexer ist, wird deutlich, wenn man sich die Frage stellt: Und was wurde zum Beispiel in der Ausstellung im Hambacher Schloss nicht erzählt? Und was geschah damals noch? Und noch grundlegender: Was wäre uns Menschen in Deutschland, Europa und vielen anderen Teilen der Welt erspart geblieben, hätte die Demokratiebewegung von damals gesiegt? Schnell wird klar, dass Geschichte, wo immer wir ihr heute begegnen, etwas Selektiertes ist, einen Ausschnitt von Vergangenheit zeigt. In diesem Zusammenhang ist die Frage interessant, warum wurden gerade diese Ereignisse ausgewählt, warum wurden sie in einen bestimmten Kontext gestellt und damit in einer spezifischen Art und Weise interpretiert?

In Anbetracht dieser Überlegungen scheint es angemessener, Geschichte zu verstehen als etwas Gemachtes, als eine Erzählung, die in der jeweiligen Gegenwart entsteht, die einer Erzählstruktur folgt, mit Höhepunkten und Auslassungen, und mit einer Intention. Damit ist Geschichte und Geschichtsschreibung nicht abgeschlossen, nicht weg gesperrt hinter Museumsmauern und zwischen Buchdeckeln. Vielmehr sollte gefragt werden, wie es zu dieser Geschichtsschreibung, dieser Erzählung kam. Und vor allem auch, was wurde nicht erzählt? Und wieso?

Während unserer Radreise ist vor allem das Hambacher Schloss als Repräsentantin der Demokratiegeschichte in der Pfalz gut sichtbar. Aber was hat Hambach möglich gemacht? Darüber erfahren wir in der Ausstellung wenig: Ohne die mutigen Freiheitsbestrebungen der vorangegangenen Generationen wäre Hambach nicht möglich gewesen. Es waren beispielsweise die Bauern aus Fischbach im Dahner Land, welche wenige Tage nach der Französischen Revolution ihren königlichen Geldeintreiber verjagten und sich die Almende, die Gemeindewiese und den Gemeindewald, zurückholten und sich die Wald- und Weiderechte nach einem Marsch zur Abtei Stürzelbronn verbriefen ließen. In der Folgezeit gab es viele Bauernaufstände in der Pfalz und auch in den Städten regte sich der demokratische Geist. In Bergzabern wurden im Herbst 1789 die Sturmglocken geläutet und der alte, obrigkeitshörige Gemeinderat durch einen neuen, demokratisch gewählten Rat ersetzt. Im Herbst 1792 wurde dann in Bergzabern eine demokratische Republik ausgerufen, viele Dörfer der Südpfalz schlossen sich dieser an. Es entwickelte sich – auch unterstützt von der Zugehörigkeit der Pfalz zu Frankreich bis 1815 – eine demokratische Tradition in der Pfalz, welche Hambach erst möglich werden ließ. So mobilisierten die Bergzaberner Demokraten und ihre Kinder 40 Jahre später für den Festzug zum Hambacher Fest. Darüber erfahren wir in der Ausstellung nichts oder kaum etwas, ebenso wenig über die Unterdrückung und Vereinnahmung des Hambacher Festes in den demokratiefeindlichen Jahrzehnten von Bismarck bis zum Nationalsozialismus. Auch als das Hambacher Fest 150 Jahre später, im Jahre 1982, von Helmut Kohl persönlich, zu einem zentralen deutschen Symbol für Freiheit und Demokratie aufgewertet wurde, wurde eine Handvoll Friedensbewegter und Atomkraftgegner restriktiv behandelt wie Staatsfeinde.
Die Aufführung zeigt, dass die Geschichte des Hambacher Festes auch ganz anders hätte erzählt werden können. Deutlich sollte aber auch werden, dass es im Umgang mit der Vergangenheit weniger darum gehen kann, dem (unmöglichen) Anspruch Genüge zu tun, Geschichte vollständig nachzeichnen zu wollen, geschweige denn, den Anschein zu erwecken, dies sei überhaupt möglich.
Auch wir sind bei unserer Reise mit einer bestimmten Perspektive durch die Pfalz geradelt. Wir wollten wissen, wo in der Pfalz – jenseits von Hambach – ist heute noch etwas sichtbar und erfahrbar von den vergangenen Demokratiebewegungen. Und daran anknüpfend: Welche Geschichte wird heute gezeigt? Was nehmen wir als (unsere) Geschichte wahr? Und was geht als Geschichte in die Köpfe ein?
Auf diese Fragen gab es erst mal nur spärliche Antworten. Denn leider gibt es – auch außerhalb der musealen Darstellung im Hambacher Schloss – an den historischen Orten keine oder kaum Hinweise auf die Ereignisse der Demokratiebewegung. In Fischbach gibt es keinerlei Zeugnisse des ersten Aufstands auf deutschem Boden nach der Französischen Revolution; in Bergzabern, der Stadt der ersten Republik auf deutschem Boden, ebenso Fehlanzeige. Lediglich ein Raum im Städtischen Museum ist den Ereignissen gewidmet. Und, schreiben wir die Geschichte der Aufstandsbewegung weiter bis in das Jahr 1849, verweist in Kaiserslautern, der Hauptstadt der Pfälzischen Revolution zur Verteidigung der Paulskirchenverfassung von 1848, lediglich eine nichtssagende und leicht übersehbare Inschrift am Gebäude der Fruchthalle – direkt neben einem mächtigen Kriegerdenkmal für die Gefallenen des 1. Weltkrieges – auf die Pfälzer Revolution. In Rinnthal erinnert, ebenso nichts erklärend, ein „Freischärlerbrunnen“ an den Ort, wo es in der Pfalz im Juni 1849 zu einem Gefecht zwischen sich zurückziehenden Freischärlern und der heran rückenden preußischen Armee kam. Kein Schild weist auf einen versteckt am Waldhang gelegenen Gedenkstein für die Gefallenen hin.
Die Spurensuche nach der „Rebellischen Pfalz“ gestaltet sich also keineswegs einfach, bleibt zumeist in Museen verbannt und wird dort oft politisch instrumentalisiert. Ernüchtert stellen wir fest, Geschichtsschreibung ist also auch eine Geschichte der Auslassungen.

Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage, wo die Geschichte geblieben ist, auf deren Spuren wir uns bewegen wollten, fällt also vordergründig mager aus. Denn es finden sich kaum oder keine Hinweise auf die Geschichte von Aufstand und Rebellion; die Darstellung im Hambacher Schloss vermittelt diese nicht ausreichend.
Darüber hinaus bot sich uns aber eine wichtige Erfahrung im Hinblick auf den Umgang mit Geschichte: Geschichte ist nicht ausschließlich die Geschichte „großer Männer“ und bedeutender Ereignisse, sondern ein (chaotisches) Sammelsurium vielfältiger Prozesse, Ereignisse und Schicksale. Geschichtsschreibung ist der Versuch, Ordnung in dieses Chaos zu bringen, dem Ganzen eine Struktur und einen Sinn zu verleihen. Geschichte ist aber nie zeitlos und nicht objektiv darstellbar. Jeder Einzelne ist an der Geschichte und der Geschichtsschreibung beteiligt. Und das Verständnis von Geschichte ist wandelbar. Geschichtsschreibung geschieht immer aus einer bestimmten Perspektive und bewirkt dadurch auch immer Leerstellen und Auslassungen. Der Umgang mit der Vergangenheit sollte daher transparent geschehen, es sollte nicht so getan werden, als könnte eine objektive Geschichte rekonstruiert werden. Vielmehr könnte der Versuch unternommen werden, sich die eigene Perspektive und die eigene Intention im Umgang mit Geschichte bewusst zu machen und diese offen zu legen. Unsere Perspektive während der Reise durch die Pfalz war es, Demokratiegeschichte aufzuspüren, unsere Intention, Demokratiebewegungen sichtbar zu machen.