Elend, unbeschreibbar?

Von Ronald Pabst

Beinahe kommen mir Tränen vor Wut, als ich die glücklichen tanzenden Kinder sehen, die einen Reigen aufführen für uns, die Besucher ihres Kindergartens. Aber draußen, draußen regiert die Tristesse total.

Kindergarten, trist
Mit meiner Fahrradgruppe der besonderen Art bin ich in Lunik IX, dem größten Romaghetto in der EU. Dort gibt es einen Bunker, die Fenster sind mit Drahtverhauen geschützt, Scheiben zum großen Teil durch Blech ersetzt. Zu oft schon wurden sie eingeworfen. Der Zaun um das Gelände wurde bereits geklaut – die Preise für Altmetall sind hoch.
In diesem Bunker ist der Kindergarten. Die Kleinen verbringen hier unbeschwerte Stunden und lernen ein Leben kennen, wie wir es wohl als „normal“ bezeichnen: mit Mittagschlaf im eigenen Bett, regelmäßigen Essen, Basteln und Bildermalen.
Die vielen Kinder hier, sie werden sich ihre kleine Chance sehr hart und gegen große Widerstände erarbeiten müssen. Ich blicke einem der Mädchen in die Augen, wir lächeln uns an. Sie ist glücklich – trotz der Welt draußen. Der Kontrast würgt Tränen hervor.
Vor dem Kindergarten erscheint es mir unangemessen, die Hochhäuser zu fotografieren. Das ist Elendstourismus. Hier muss also eine Beschreibung reichen. Lunik IX ist eine typische Plattenbausiedlung aus der Kommunistenzeit. Viele Fensterscheiben sind kaputt, ganze Treppenhäuser scheinen ungeschützt der Witterung ausgesetzt. An der einen oder anderen Stelle scheinen gar Wände zu fehlen. Das an solchen Orten übliche, kümmerliche Zweckgrün fehlt. Dafür fädeln sich Stromleitungen spinnennetzartig in die Wohnungen. Die an Ruinen anmutenden Gebäude sind bewohnt.
Aus Büchern habe ich gelernt, dass es verschiedene Kasten bei den Roma gibt. In einigen Wohnungen wird es sehr sauber und ordentlich sein; ein Haus ist sogar farbenprächtig und sieht gesund aus – oder zumindest nicht ganz so krank.
Vor und zwischen den Gebäuden stehen dunkle Gestalten, die mich missmutig anschauen. Ich schaudere. Ein Gefühl wie in der Geisterbahn. Sicherheit gibt die Besuchergruppe; die Herde schützt das einzelne Schaf.

Bürgermeisterin, zackig
Nach dem Besuch treffen von Lunik IX treffen wir die zuständige Bürgermeisterin der Stadt Košice. Sie betritt den Konferenzsaal mit einem sehr heftigen Öffnen der Tür. Es soll wohl ein „Hoppla, jetzt komm ich“ ausdrücken – ist aber um plus 2 zu stark, um noch als höflich durchzugehen. Ob dies unsere aufgewühlte Gruppe gegen sie aufbringt? Oder liegt es an den schockierenden Eindrücken im Kindergarten? Im Gespräch jedenfalls bedrängen wohlmeinende Gutmenschen die Frau mit Fragen. Es wird konfrontativ. Unsere Aussagen sind wohl recht typisch für „Westler“. Die Frau lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Als wir Fragen an uns zulassen, fragt sie uns nach einer Lösung. Gut gekontert. Die etwas großkotzig vorgetragene Antwort wirkt verloren:
„Basically there are three answers: 1. education, 2. education and 3. education.“
Ich denke an ein voriges Gespräch mit der Leiterin einer Romaschule. Diese streitet sich mit Vätern ums Schuldgeld; Vätern, die sehr wohl Ressourcen für Alkohol und Zigaretten haben. Diese Roma-Schule hat keine neunte Klasse – mangels Kindern, die diese besuchen wollen. Bildungsfern nennt man das, glaube ich.
Das Elend ist so groß, dass es viele Schuldige geben muss. Und jeder kann sich hinter der Verantwortung anderer verschanzen, um seine kurzfristig gedachten Interessen zu behaupten.

Ausgrenzung, quadriert
Respekt ist im Umgang mit den Romi nicht üblich, ganz im Gegenteil. Wir treffen auf Frauen, die unfruchtbar gemacht wurden. Gegen ihren Willen. In den Augen spiegeln sich Trauer, durchwachte Nächte und verzweifelte Depression. Fragen sind hier nicht zu stellen, zuhören ist angebracht.
Doch die Frauen leiden nicht nur an dem rücksichtslosen Vorgehen der Ärzte und den Dauerfolgen: nun müssen sie teure Pillen schlucken, damit der Körper die Umstellungen aufgrund der Zwangsterilisation verarbeiten kann. Die Frauen leiden genauso unter den Menschen, mit denen sie zusammenleben. Sie werden als Zweitklassige behandelt in der Gemeinschaft der Ausgestoßen. Das ist Ausgrenzung im Quadrat: Was muss da ein an den Mann gerichteter anrichten wie
„Such dir lieber eine Frau, die Kinder kriegen kann.“
Es ist einfach entsetzlich. Denn viele Kinder zu haben, dass ist hier ein Zeichen von Reichtum – obwohl es doch so arme Kinder sind.

Brüssel, gescheitert
Oft werden Lösungen fern im Westen ausgedacht. Das Sinnbild dieses Scheiterns ist ein Spielplatz, der am Bürgermeisteramt von Kecerovce: 150.000 Euro soll er gekostet haben. Wenige Kinder spielen auf der nicht einladenden Wüste aus teuerem Stein. In den nahen Hütten gibt es kein fließend Wasser und keinen Strom. Hier ist der Gedanke, dass Korruption im Spiel ist, geradezu eine Rettungsinsel. Denn sollte das nicht der Fall sein, sollte es stattdessen so sein, dass dieser unbelebte Ort einfach nur ein Auswuchs eines fernen bürokratischen Systems ist, ja dann, dann sollten wir die Krone der Schöpfung den Affen übergeben und uns gehorsam unter ihre Herrschaft stellen. Denn Korruption, ja Korruption gibt dem Ganzen wenigstens einen Sinn: wenigstens ein paar Steinverkäufer und Bauunternehmer hätten dann profitiert.

Augenhöhe, hoffnungsspendend
Neben dem Spielplatz treffen wir Jugendliche, die modern gekleidet sind. Roma, denen wir auf Augenhöhe begegnen. In ihrem Club servieren sie uns heißen Tee, der nach der langen Radreise gut tut und labt. Eigene Regeln haben sich die Jugendlichen gegeben: Vertrauen und Bindung sollen hier herrschen. Mit der Selbstbestimmung wächst Selbstvertrauen.
Und das ist wohl die einzige Herangehensweise, die an diesen Orten helfen kann. Die Menschen ernst nehmen und als freie, als leuchtende Wesen zu behandeln. Befreien kann sich jeder nur allein. Das ist liberales Denken im besten Sinne. Jeder Mensch ist ein Künstler, sagt Beuys. Und auch das Überleben kann eine Kunstform sein.